Lebenszeichen von Frank in Corona-Zeiten am 1.5.2021

Frank Witzel
5 min readMay 1, 2021

Es gibt Menschen, die sagen, dass Corona eine “Gegenwartsschrumpfung” verursacht. Ich will dem widersprechen. Allein, dass solche klugen Interviews veröffentlicht werden, in denen dieses Wort vorkommt, macht Horizonte auf. Ich finde, es ist ein intellektueller und existentieller Genuss, dieses Gespräch zwischen Peter Unfried, dem Chefreporter der taz, und dem Soziologen Hartmut Rosa miterleben zu dürfen.

Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass diese Zeit kostbar ist, weil nach der Corona-Zeit weitere und größere Aufgaben auf uns warten. Wir sollten diese Krisenzeit als Lernfeld nutzen, um kollektive Problemlösungen für die Menschheitsfamilie einzuüben. Wir werden uns in Zukunft verstärkt um das Klima und die Schere von Arm und Reich kümmern müssen — ob wir wollen oder nicht. Insofern glaube ich, dass die Corona-Zeit “Sinn macht”.

Ich habe versucht, diesen Gedanken für eine Presseandacht im Walser Lokalblatt, für die ich turnusmäßig dran war, zu übersetzten:

Wort zu kirchlichen und weltlichen Feiertagen Anfang Mai 2021:

„Völker, hört die Signale!“

Der Mai beginnt. Frühlingsgefühle! Hoffnung! Ich schaue aus meinem Arbeitszimmer auf die zarten, grünen Blätter in der Morgensonne. Meine Seele spürt dabei: Es geht um mehr. Es beginnt nicht nur ein neuer Tag im steten Ablauf neuer Tage. Nein! Vielmehr ist unsere Seele dem tief wurzelnden Kraftfeld verbunden, dass uns bewusst oder unbewusst nahe legt: „Es wird besser — mit allem.“ Ohne „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch) gehen wir vor die Hunde, werden depressiv oder folgen Verschwörungstheorien. Manche weichen in Süchte aus, andere werden aggressiv.

Aber, so Bloch und Bibel, „die Hoffnung erträgt kein Hundeleben“.

Die Bibel nährt Hoffnung und sagt: „Auch wenn wir es nicht beweisen können, ist die Schöpfung gut, geliebt und schön. Warum es aber ein Fressen und Gefressen-Werden gibt, klären wir nicht in allerletzter Konsequenz auf. Warum es zum Beispiel gefährliche Viren gibt, ist bis zu einem gewissen Punkt auch ein Geheimnis. Wir bleiben bei der Hoffnung und der Freude am Schönen.“

Die Bibel sagt auch: „Selbst wenn du es nicht erleben wirst vor deinem Tod, geht es mit dem Leben der Welt gut aus. Das Ziel ist die Freude, der Frieden, die gelingende Gemeinschaft von allem mit allem. Auch wenn wir dies nicht als Teil unserer täglichen Erfahrung bestätigen können, halten wir trotzdem daran fest, dass Gott uns und seiner ganzen Schöpfung in Liebe treu ist.“

Die Bibel sagt uns manchmal auf Umwegen: „Dein Leben hat Sinn. Gott hat eine besondere Berufung für dich. Der Einsatz für das Gute lohnt sich — trotz allem.“

Mit dem Blick der Hoffnung schauen wir dann auf die besonderen Tage am Anfang des „Wonnemonats“ und verstehen:

Der „1. Mai“ als Feiertag der Arbeiterbewegung lebt von der Hoffnung, dass Gott erkannt oder unerkannt dafür sorgen wird, dass Ausbeutung aufhört. Menschen werden weder sich selbst, noch andere, noch die Natur auf Dauer ausbeuten. Um Ausbeutungsverhältnisse zu beenden, scheut Gott auch keine Konflikte. Gott scheint manchmal auch zornig zu sein. Sein Ziel aber ist die Kooperation aller für alle.

Der Sonntag „Kantate“ (übersetzt: „Singt!“) am 2. Mai verbindet sich mit dem 1. Mai und lehrt, dass das Kirchenlied „Sonne der Gerechtigkeit“ (gehe auf zu unsrer Zeit …) zusammen mit dem Arbeiterlied „Die Internationale“ (erkämpft das Menschenrecht …) gesungen werden will.

Der Sonntag „Rogate“ (übersetzt: „Betet!“) am 9. Mai verbindet den unbändigen Hoffnungsimpuls mit der nüchternen Lebenserfahrungen und empfiehlt: „Wenn es dir und anderen gut geht, lobe Gott, juble und singe! Wenn es dir und anderen schlecht geht, klage Gott, zweifle und kämpfe! Suche dafür Worte und Sprache! Du brauchst Gott nicht „fromm“ zu schonen. Er wird dir antworten. Aber zuerst bist du dran, deutlich zu sein.“

Gott segne Sie und euch mit guten Antworten des Leben, Ihr und euer Frank Witzel

Schülerarbeit Kunst in der Mittelschule in Riezlern, Kleinwalsertal

Eine zweite Presseandacht für das Allgäuer Anzeigeblatt versucht es noch narrativer auszusprechen. Sie überlässt es dem Heiligen Geist, dem guten “Spirit”, aus diesem Impuls eine ethische Aufforderung zu machen:

Verschwörungen? … find‘ ich gut!

In meinen Netzwerken gibt es einige, die Verschwörungstheorien einleuchtend finden. Sie glauben, dass Regierende in Deutschland sich mit Bill Gates aus Amerika zusammengetan haben, um eine Diktatur zu errichten. Ich versuche, sie zu verstehen.

Manche von ihnen sind gebildete, leitungsfähige und kluge Leute. Aus ihren Überzeugungen wachsen mitunter mutige Entscheidungen — zum Beispiel der endgültige Schritt, in ein fernes Land auszuwandern. Ich respektiere diese mutige Konsequenz.

Manche haben schlimme Erlebnisse in ihren Erinnerungen, Entbehrungen in ihrer Kindheit oder schmerzhafte Brüche in ihrer Biografie. Traumatische Erfahrungen werden wieder wach. Ich bedaure dies und helfe, wenn ich kann.

Manche verwandeln Schweres in ein tolles, hilfreiches Lebensprojekt:

Vor einigen Jahren lernte ich Ofer Golany kennen, ein jüdischer Friedensaktivist und Liedermacher aus Jerusalem. Er lehrte mich „Rabbi“ Leonard Cohen als Mystiker zu verstehen und zu lieben. Wir organisierten ein Konzert mit dem Titel „Conspiracy of Love“. Der Impuls war: „Stell dir vor, alles, was du an Schönem und Schrecklichem erlebst, ist Teil einer großen, Himmel und Erde verbindenden Verschwörung. Alles wird mystisch so inszeniert, dass die Liebe siegen wird.”

Er ein Jude und ich ein Christ waren mit vielen anderen verbunden durch einen guten Geist, ein „Spirit“, der Angst nahm und Hoffnung gab.

Tags darauf landeten wir wieder in der real existierenden Welt: Ofer spielte seine Gitarre in der Augsburger Fußgängerzone … und hatte keine Ahnung vom Ordnungsamt. Sie kamen, wiesen ihn zurecht und brummten ihm eine Strafe auf wegen Missachtung der städtischen Regelungen für Straßenmusik. Alarmiert, wütend und zornig beschimpfte er die Ordnungshüter als Nazis, KZ-Aufseher … und überhaupt hätte sich in Deutschland gar nichts verändert. Er packte seine Sachen, flüchtete zu mir an meinen damaligen Arbeitsplatz, der ihm als sicherer Ort in Augsburg vertraut war.

Die Bediensteten kamen hinterher. Mit freundlichen Worten konnte ich die Sache klären, mich stellvertretend entschuldigen und seine Strafe bezahlen. Im Gegenzug verzichtete der Ordnungsdienst auf eine Anzeige wegen schwerer Amtsbeleidigung. Ofer konnte sein Musiker-Trinkgeld behalten.

Ich fand: Das war ein Teil der „Conspiracy of Love“.

Seine CDs werde ich demnächst wieder einmal hören, an ihn denken und mich darauf freuen, dass wir in Gottes Vollendung auch mit dem bereits verstorbenen Leonard Cohen Musik machen werden.

Liebe Verschwörungstheoretiker*innen, Zweifler, Sucher und andere gute Christen, letztlich geht es nicht um zwingende Argumente für dieses oder jenes. Vielmehr geht es um die Hoffnung, dass das Gute siegt. Dass wir in Gottes Führung gut geborgen sind, hilft uns, klar zu fühlen und zu denken.

Wir sind geborgen bei und durch Gott. Er sorgt dafür, dass es sich gut fügt. Alles andere wird sich in Frieden finden.

Herzlich, Ihr und euer Frank Witzel

--

--

Frank Witzel

Evangelischer Pfarrer, Traumatherapeut und Biker in der evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas in Augsburg.