Lebenszeichen von Frank aus St.Thomas in Augsburg-Kriegshaber am 15.12.2021

Frank Witzel
8 min readDec 15, 2021

Ich bin auf meiner neuen Stelle gut angekommen. Überall ist Corona. Aber es fühlt sich nicht so an: Es gibt viel zu tun. Viel (sichere) Kommunikation (unter Corona-Regeln). Viel Kreativität. Viele engagierte Leute. Es ist manchmal wie ein schöner Traum. Wache ich bald daraus auf? Ist es wahr und wirklich? Trotz alledem?

Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass ich zur Wirklichkeitsleugnung neige. Ich stelle mich gern den Realitäten und habe trotz Corona in unserer großen, eisig kalten Kirche einen Workshop unter Beachtung der einschlägigen Regeln zum Thema “Gut durch die Krise kommen” gehalten. Es war im Grunde eine Kurzeinführung in die ressourcenorientierte Psychotraumatologie auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Probleme.

Hier, s.u. kommt der Abschlussvortrag mit den darin verarbeiteten Fragen und Impulsen aus dem erweiterten Publikum. Mir ist es wichtig, dies mit euch und mit der Öffentlichkeit zu teilen. Seid und bleibt behütet!

Tägliche Begleiter im Alltag

Traumapädagogik-Workshop in Corona-Zeiten „Gut durch die Krise kommen“.

Frank Witzel, 17.12.2021, St. Thomas, Augsburg-Kriegshaber

Vielen Dank, dass Sie es beim ersten Teil des Workshops in der kalten Kirche ausgehalten haben!

Danke für Ihre Anregungen, Fragen, Impulse und Erfahrungen, die Sie per Mail oder in nachlaufenden Gesprächen geteilt haben!

Ich antworte ohne Umschweife, ohne die jeweiligen Fragen zu wiederholen.

1. Wichtig für das Verständnis unserer Reaktionen in Krisen und/oder Traumata ist der Hinweis, dass es in unserem Gehirn die sogenannten Spiegelneuronen gibt. Dies sind Hirnzellen und Netzwerde der Verknüpfung von Hirnarealen, die wie ein Spiegel funktionieren: Das, was wir bei anderen Menschen außerhalb unseres Körpers und außerhalb unserer direkten Sinneswahrnehmungen sehen oder hören, verarbeitet unser Gehirn so, als ob wir es selbst erleben oder tun. Das heißt, wenn wir andere Menschen essen sehen, läuft uns selbst das Wasser im Mund zusammen. Wenn andere gähnen, spüren wir den gleichen Drang dazu. Wenn andere lachen und fröhlich sind, werden wir gern davon angesteckt. Wenn andere nervös sind, werden wir auch unruhig. Und, jetzt kommt das Bedeutsame, wenn andere Schlimmes erleben, leiden wir mit. Zugleich, wenn andere Menschen gute Lebenswege finden, werden wir selbst davon inspiriert. Spiegelneuronen ermöglichen uns, dass wir einander spiegeln. Ihr Name ist ihr Programm.

1.1. Die Spiegelneuronen sind die Voraussetzungen in unserem Gehirn, dass wir empathisch sind, lieben können, barmherzig sind. Sie sind aber auch dafür zuständig, dass andere für uns als schlechte Beispiele und Vorbilder dienen. Wir sind sogar fähig, Böses zu tun, nur weil wir uns verbunden fühlen mit unserem Nächsten. Jeder Krieg erzählt von dieser Fähigkeit.

1.2. Für traumatische Situationen bedeutet dies: Wenn wir traumatisierte, ohnmächtige, leidende Menschen sehen, ist das für unser Gehirn so, als ob wir selbst es erleben. Diese menschliche Eigenschaft macht u.a. auch viele dramatische Filme interessant und zu Kassenschlagern. Darum, nebenbei bemerkt, haben Medien auch so großen Einfluss auf die Politik in offenen, demokratischen Gesellschaften. Spiegelneuronen sorgen dafür, dass wir unser Kreuz in den Wahlkabinen oft bei Parteien machen, die gar nicht unsere eigentlichen Interessen vertreten. Wenn wir unserer Interessen bewusst sind, wenn wir in einer neutralen Umgebung nach ihnen befragt werden, haben wir oft ganz andere Präferenzen. Wir identifizieren uns aber automatisch mit denen, die unsere Spiegelneuronen am besten aktivieren können — wie auch immer sie es anstellen. Wenn wir hier wieder „Selbstwirksamkeit“ herstellen wollen, müssen wir verstehen, was vor sich geht. Kurz: Unsere Seele braucht unser funktionierendes Gehirn — und umgekehrt.

1.3. Für Ressourcen bedeuten Spiegelneuronen: Alles, was wir selbst als Lebensfreude erleben, stärkt uns. Und das, was wir bei anderen an Gutem erleben, stärkt unsere Seele ebenso und aktiviert die psychischen Selbstheilungskräfte. Am besten ist es, wir erleben das Gute in einer Gruppe, so dass sich ein positiver, sich selbst verstärkender Rückkoppelungsmechanismus ergibt.

2. Darum können wir knapp definieren: Alles ist eine Ressource, was mir und/oder anderen Lebensfreude vermittelt. Alles, was gut ist und Gutes bewirkt.

2.1. Besondere Erwähnung unter den vielfältigen Ressourcen sind folgende Haupt- oder Kardinalressourcen:

2.1.1. Sicherheit. Die Abwesenheit von Gefahr und Gefährdern.

2.1.2. Zur Sicherheit gehört auch die Fähigkeit, kognitiv, vernünftig, klar zu verstehen, was passiert. Verstehen beseitigt Angst. Eine Komplexität des Lebens, die nicht mehr verstanden und beherrscht wird, verunsichert. Wird dem keine Ressource entgegengesetzt, macht sie Angst. Eine Kurzschlussreaktion ist dann die „Reduktion von Komplexität“ durch fundamentalistisches, „monomanisches“ Denken, das die Welt in Schwarz und Weiß aufteilt und vordergründig vereinfacht. Der Grund für „Monomanien“, die komplexe, vielschichtige Situationen auf nur eine Ursache zurückführen, ist nicht Dummheit sondern Angst.

2.1.3. Bindung. Die Psychotraumatologie nennt es „Anschluss“, die Sozialpädagogik sagt „Beziehung“. Alles meint die Erfahrung, dass mensch nicht allein ist im Leben … und auch nicht allein sein kann, um überleben zu können. Dies gilt seit Urzeiten. Auch die Erfahrung und Praxis der Spiritualität ist eine Form von Bindung, nämlich eine Beziehung zu einer Welt, die mensch nicht sieht, aber glaubt und hofft. Mit dem Wort „Sinn“ verhält es sich ähnlich. Sinn ist eine überaus starke Ressource. Viktor E. Frankl hat seine gesamte „Logotherapie“ auf diesem Begriff und die Erfahrung von Sinn aufgebaut — und durch sein Beispiel als Überlebender verschiedener Konzentrationslager seine „ärztliche Seelsorge“ selbst beglaubigt. Zugleich weist er darauf hin, dass der Mangel an Sinn krank macht. Er führt zu einer „noogenen Neurose“.

Die gegenwärtige Pandemie ist u.a. durch die Minderung von Bindungssituationen (Maske, Abstand, Quarantäne, Lockdown) dazu geeignet sogenannte „small-t-Traumata“ zu bewirken. Es geschieht zwar in den meisten Fällen nichts absolut Schlimmes, aber die Situation entspricht der eines Traumas: Mensch hat keine Bindung, kann dem nicht entfliehen und kann es auch nicht bekämpfen.

2.1.4. Selbstwirksamkeit. Dies ist das komplette Gegenteil von Ohnmacht. Aber gerade in der Pandemie erleben wir strukturelle Ohnmacht, weil wir keine geeignete Mittel gegen die Viren haben und dem Infektionsgeschehen ohnmächtig ausgeliefert sind. Wir können auch nirgends hin fliehen, weil die Pan(!)demie überall auf der Welt eine Gefahr darstellt.

2.1.5. Lebensfreude, s.o..

Sie ist in ganz besonderer Weise eine Ressource, wenn sie in Gemeinschaft erlebt wird.

3. In der Weihnachtszeit verschärft sich die innerpsychische Problemlage, weil die Festtage normalerweise ihr Gepräge durch Bindungsverhalten bekommen: Familie, Liebe, geschmückte Wohnungen. Advent und Weihnachten verstärken die Erwartung nach positiver Bindung. Die Enttäuschung ist dann umso größer, je schwieriger die Rahmenbedingungen dafür sind.

4. Ressourcengerechtes und sinnvolles Verhalten in Zeiten der Krise wird dadurch erreicht, dass ein stetes Gleichgewicht von Belastungen und Ressourcen angestrebt wird — wie bei einer ausgeglichenen Waage. Dazu gibt es viele Impulse, Regeln, Einsichten und Übungen. Die Waage in der Waage zu halten, kann geübt werden.

5. Die gegenwärtige Corona-Situation ist ein kollektives „small-t-Trauma“: Es werden, außer auf den Intensivstationen, keine Lebensbedrohungen erfahren. Aber die Struktur eines Traumas ist gegeben: Gefahr — Alarm — Wunsch, zu flüchten oder zu kämpfen bei gleichzeitigem Verlangen nach Bindung — alles wird unmöglich gemacht — Totstellreflex — Dissoziationen und Amnesien. Die Struktur ist genau die gleiche wie bei einem „Big-T-Trauma“, wo reale Lebensbedrohungen, unerträgliche Schmerzen oder existentielle Verluste eine bestimmende Rolle spielen.

In der Traumafolgereaktion werden Hirnareale „dissoziiert“, entfremdet, deren Verbindung unterbrochen. Doch diese Vernetzungen brauchen wir dringend, um komplizierte, komplexe Situationen zu verstehen und zu bewältigen. Denn je vernetzter wir denken können, umso kreativer können wir Probleme lösen. Problembewältigungskompetenz und Lebenstüchtigkeit hat vor allem etwas mit Vernetzung zu tun, weniger mit hohem IQ, Brillanz und Spezialwissen. Lebensbewältigung in komplexen Situationen ohne innerpsychische und soziale Vernetzungen misslingt.

Das Gehirn hat im Trauma-Modus aber gleichzeitig sein Programm zur Schaffung von Sicherheit gestartet: So entstehen Monomanien, Schwarz-Weiß-Denken, Fundamentalismen, Verschwörungstheorien und irrationales, dysfunktionales Denken. Dies mündet in ebenso nicht hilfreiches Reden und Handeln. Gewalt nimmt verbal und tatsächlich zu. Verschwörungstheorien sind Traumafolgereaktionen.

Zugleich sind die Demonstrationen von Querdenkern unter rein psychotherapeutischen Aspekten gesehen ein gewisser Erfolg: In ihnen wird nämlich Bindung (viele Menschen sind nah beieinander und machen das Gleiche) und Selbstwirksamkeit (Medien, Polizei, Öffentlichkeit und Politik wird aufmerksam, evtl. sogar verändert) erlebt, was an und für sich gut ist. Dies wird auch bei Demonstrationen mit ganz anderen Inhalten so erlebt. Ich selbst habe solche Erfahrungen z.B. in Wackersdorf im Einsatz gegen die Atomkraft erlebt. Ethisch sind Querdenker-Demonstrationen aber dennoch höchst problematisch, weil sie irrationales, dysfunktionales Denken befördern.

6. Empfänglich für „small-t-Traumata“ im Umkreis der Pandemie mit dysfunktionalen, irrationalen Traumafolgereaktionen sind alle Menschen, die bereits ein oder mehrere traumatische Ereignisse in ihrer Biografie erfahren mussten. Es addiert sich, wenn sich keine ressourcenorientierte Bewusstheit dem entgegenstellt, zum Verstehen hilft und bewusst vorhandene Ressourcen stärkt sowie neue entdeckt und entwickelt. Es gibt Polytraumata auch im Lebensbogen. Die gute Botschaft ist: Sie lassen sich sehr gut behandeln, bearbeiten, heilen. Menschen verwandeln Traumata in Krisen und diese in Lernerfahrungen, die wiederum in Reifungsprozesse münden. Wichtig für den Einstieg in die Heilungsprozesse sind die Kardinalressourcen, s.o.. Und die besonders gute Botschaft ist: Oft genügt es, ein einziges Trauma zu bearbeiten. Unsere Seele lernt dann den Weg … und macht den Rest mit den übrigen Traumata allein.

So landen wir wieder im Hier und jetzt, können die Vergangenheit in der Erinnerung mit Abstand würdigen und wie Frederik, die Maus, die Sommerfarben für den Winter imaginieren.

7. Die öffentliche Debatte zur Pandemie ähnelt der Diskussionen während der sogenannten Flüchtlingskrise: Es gibt eine gemeinsame Gefahr, die eine gemeinsame Herausforderung darstellt und ein gemeinsames, hochkomplexes Agieren auf den verschiedensten Ebenen von persönlichem Leben, politischen Entscheidungen, Forschungsanstrengungen, internationalen Verständigungen usw. einfordert.

Gelingt dies nicht, sterben Menschen — auf der Flucht oder auf den Intensivstationen. Gelingt es, hat die Menschheitsfamilie etwas dazu gelernt, wie etwa auch nach dem zweiten Weltkrieg, als die Menschenrechte formuliert und deklariert wurden.

Der rechte Rand von Politik und Gesellschaft erkennt interessensgesteuert die potentielle Gefahr und macht sich die Zerbrechlichkeit des Humanen in unethischer Weise zunutze, um Macht durch Angst zu gewinnen. indem sie den Zustand, seien es Flüchtlingsbewegungen und –hilfen oder Corona-Hygiene-Maßnahmen skandalisiert. Die Bedrohungsängste wachsen dann ins Unermessliche bei einer zunehmenden Anzahl von Menschen. Die Spiegelneuronen sorgen dafür, dass rechte Demagogen hier gegen die Interessen der Mehrheitsgesellschaft relativ leichtes Spiel haben.

Small-t-Traumata werden ausgelöst und Dissoziationen gefördert. Dies lässt ein monomanisches Denken bei einer zunehmenden Anzahl von Menschen immer wahrscheinlicher werden. Diese Monomanien werden mit unterkomplexen, inhumanen, radikalen und gewaltbereiten Botschaften infiziert. Diese wachsen. Die bürgerliche Mitte hat nicht die Ressourcen, diesen Prozess zu verstehen und ist bereit, die Träger der Traumasymptome auszugrenzen. Dies verstärkt den Dissoziationsprozess. Tragisch ist, dass die bürgerliche Mitte den demagogischen Kern der Rechten argumentativ übernimmt. Die Situation ähnelt dann dem absurden Theaterstück „Die Nashörner“ von Eugène Ionesco.

8. Die konstruktive Lösung kann nur darin bestehen:

8.1. Wahrnehmen, eine Herausforderung ist kein Skandal. Sie ist vielmehr eine Herausforderung zu lernen, mit komplexen Situationen umzugehen und (neue) Ressourcen zu entwickeln und (alte) Ressourcen neu zu stärken. Das geht.

8.2. Ressourcen analysieren und einsetzen.

Es gibt z.B. positive Seiten des Homeoffice und der digitalen Kommunikation und vieles mehr, das als Chance wahrgenommen werden kann. Nicht zuletzt kann die Pandemie auch als Ruf begriffen werden, kollektives Handeln in der einen Menschheitsfamilie zu lernen, damit im Angesicht des Klimawandels und der Spaltung der Welt in Arm und Reich Zukunftsfähiges entstehen kann — für alle.

Es ist auch hilfreicher, die Integrationslast bei Migrationserfahrungen den Reichen statt den Armen einer Gesellschaft anzutragen. Wenn es Verteilungskämpfe am unteren Ende der Leiter gibt, stürzen auch die weiter oben ab. Doch im Moment haben diejenigen, die oben stehen, die größere Meinungsmacht im öffentlichen Diskurs. Dies schadet der Demokratie. Monomanien verhindern den Blick ringsum, nach oben und unten. Intelligenz und Kompetenz erweitern den Blick.

8.3. Das Angebot des Glaubens in dieser hochkomplexen und für die Menschheitsfamilie wichtigen Situation ist der Aufbau von universaler Bindung. Die Botschaft der Bibel und des christlichen Glaubens lautet: Du bist nicht allein. Der Schöpfer des Universums ist auch dein himmlischer Vater, deine allumfassende Mutter. Der Heilige Geist erfüllt dich. Dein Leben hat Sinn. Die anderen Menschen sind im Grunde Brüder und Schwestern. Du bist verbunden. Damit dies auch deine Seele versteht, bete einfach mit einfachen Worten: „Guter Gott, du bist da“ beim Einatmen und Ausatmen.

Es wirkt. Es hilft — einzeln und gemeinschaftlich, individuell und politisch.

Frank Witzel

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Frank Witzel

Evangelischer Pfarrer, Traumatherapeut und Biker in der evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas in Augsburg.