Lebenszeichen von Frank am 4.5.2024

Frank Witzel
8 min readMay 4, 2024

„Frieden schaffen ohne Waffen“ — !?

Wir sollten reden. Beobachtungen und Reflexionen.

Als ich Schüler war, fand ich meinen Vater seltsam. Er sprach wenig über sich und seine Lebenserfahrungen, gab mir aber zu verstehen, dass ich überhaupt nichts verstehen würde von der schlimmen und schwierigen Zeit im Krieg.

Wenn ich in den Spiegel blicke, schaut mich ein Mann an, der meinem Vater immer ähnlicher wird. In Gedanken verbinden sich die Generationen und deren Erfahrungen. Ich werde gewahr: Wir sind verbunden in einer großen Lerngemeinschaft, die sich nach Frieden und einem gelingenden Leben sehnt.

Meine Familie mütterlicherseits redete mehr über Krieg und Flucht,- aber nur auf Familientreffen. Ich konnte als Junge, die einzelnen erzählten Episoden nicht zu einer ganzen, in sich stimmigen Geschichte zusammenfügen.

Heute bin ich Seelsorger und Traumatherapeut und verstehe, dass meine Familie fast ausschließlich aus kriegs- und fluchttraumatisierten Menschen bestand. Sie haben zugleich das Beste aus ihren Lebenserfahrungen gemacht.

Ich zog aus diesen verstörenden Erfahrungen die Konsequenz, Pazifist, Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistender in einer Psychiatrie zu werden.

Ich bin mit meiner Familie samt meinem Lebensweg im Reinen.

Am 29. Februar dieses Jahres traf ich mich mit anderen PfarrerINNEn und DiakonINNen in der Würzburger Innenstadt zu einer Aktion in einem Format der “Pop-UP-Church“. Wir standen in liturgischer Kleidung da und hielten Plakate in die Höhe mit der Aufschrift „Wofür soll ich beten?“. Das bayerische Sonntagsblatt berichtete darüber.

Diese Pop-Up-Church-Aktion löste sehr viele Begegnungen und Gespräche spontan aus. Gebetsanliegen wurden aufgeschrieben und vor Gott bedacht. Manche Menschen wurden an Ort und Stelle gesegnet.

Ich erinnere mich dabei auch an drei Frauen mit Akzent. Sie waren mir spontan sympathisch. Ihr Tonfall erinnerte mich sofort an frühere russlanddeutsche Gemeindeglieder, die Vertreibung, Umsiedelungen und Neuanfänge über Tausende von Kilometern hinweg treu und bescheiden gemeistert hatten. Nun nahmen die Frauen mich beim Wort und baten, ich solle dafür beten, dass Deutschland keine Waffen mehr in die Ukraine liefert. Und überhaupt: Sie zahlten Steuern und wollten nicht, dass ihr Steuergeld für Waffenkäufe verwendet werde. Ich forderte sie auf, das gewünschte Gebetsanliegen umzuformulieren und dann etwas Positives in Wort und Gebets zu fassen. Wir einigten uns, dass ich für den Frieden in der Ukraine beten solle.

Kurz darauf kam ein Mann auf mich zu und bat, ich solle dafür beten, dass die terroristischen Russen in der Ukraine vernichtet werden. Mit ihm versuchte ich das Gleiche: „Bitte formulieren Sie mal positiv, was ich von Gott erbitten soll.“

Am 6. April dieses Jahres war ich mit einem katholischen Kollegen als Redner angefragt auf einer Kundgebung in Ochsenfurt gegen Rechtsextremismus. Es war eine gute Situation mit gutem Wetter, guten Redebeiträgen, einem breiten Spektrum der Gesellschaft und guter Atmosphäre.

Plötzlich erklang der skandierte Ruf einer kleinen Gruppe „Frieden schaffen ohne Waffen …“ und ließ mich zuerst nostalgisch werden. Die vertrauten Worte riefen nämlich Erinnerungen und Bilder wach: „Fasten für den Frieden“, „Petting statt Pershing“, „Schwerter zu Pflugscharen“, „make love no war“, „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. In der Erinnerung kommt Udo Lindenberg dazu, wie er im Ostberliner Palast der Republik seinerzeit die Abschaffung von Pershing- und(!) SS-20-Mittelstreckenraketen fordert.

Nach ein paar Sekunden merkte ich aber, dass hier Menschen andere Menschen hindern wollten, sich für Toleranz und Menschenwürde einzusetzen. Gerade im Hinblick auf den russischen Angriff auf die Ukraine wurde hier indirekt einer Täter-Opfer-Umkehr das Wort geredet.

Fast beschämt, auf jeden Fall irritiert, musste ich mich selbst daran erinnern, dass wir bewusster nachdenken, dickere Bretter bohren, klüger analysieren und ehrlicher reden müssen, wenn wir das Anliegen des Pazifismus in Zeiten des Krieges lebendig halten wollen.

Das pazifistische Denken, Wollen und Tun muss meines Erachtens bisherige Erkenntnisse, neue Herausforderungen und bisher unterreflektierte Aspekte miteinander verbinden:

- Der konziliare Prozess von „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ der weltweiten ökumenischen Bewegung hat erkannt, dass Frieden und Gerechtigkeit zusammengehen müssen. Von daher muss weiter und intensiver als bisher untersucht werden, wie der globalisierte Kapitalismus so gestaltet werden kann, dass er Gerechtigkeit für alle(!) befördert. Die Aufgabe der Kapitalismuskritik ist noch längst nicht erledigt.

- Zugleich gilt: Bisher hat es nur der Kapitalismus geschafft, so große ökonomische Kräfte zu entbinden, um Millionen und Milliarden von Menschen in einer noch wachsenden Weltbevölkerung zusätzlich zu ernähren. Hunger konnte zurückgedrängt werden in globaler Perspektive.

- Die Lebenserfahrung von Millionen und Milliarden von Menschen zeigt: ohne die sichere Befriedigung der Grundbedürfnisse von Menschen an Nahrung, Wasser, Hygiene, Obdach, Würde und Teilhabe ist kein Frieden zu verwirklichen. Wenn Menschen ihre Grundbedürfnisse nicht sichern können, kämpfen sie. Dies gilt individuell und kollektiv. Armut und soziale Differenzierung gebiert Gewalt.

- In Situationen der Gewalt wird die Schöpfung nicht bewahrt werden können.

- Menschen werden ihre kreativen, sozialen, intellektuellen und ethischen Ressourcen nur in Situationen der Sicherheit entfalten können. Und wir brauchen die besten Ressourcen überall auf dieser zerbrechlichen und hochkomplexen Welt, um mit ihr gut umgehen zu können.

- Darum braucht der Pazifismus hoch aktuelle, wirtschaftliche, politische und systemische Vernunft und Kompetenz.

- Der traditionelle Pazifismus wurzelt vor allem in den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Die gebildeten Kulturen und Nationen Europas stolperten verblendet durch nationale Überheblichkeit und die verschiedensten Gefühle kultureller Überlegenheit in eine Katastrophe, von der wir uns bis heute nicht erholt haben. Hier hat der gesinnungsethisch motivierte Pazifismus sein bleibendes Recht, kraftvolle Würde und seinen „Sitz im Leben“.

- Doch er sprang zu kurz: Schon wenige Jahre später war er sprach- und wirkungslos im Angesicht von Faschismus, Nationalsozialismus und der Schoa. Der traditionelle Pazifismus hatte eine Antwort auf politische und militärisch ausgeführte Dummheit. Er war aber wehrlos gegenüber einem unbedingten Unterwerfungs- und Vernichtungswillen. So musste die Appeasement-Politik scheitern. Es ist nicht nur für die nach Frieden trachtende Appeasement-Politik tragisch, dass die militärische Gewalt der Alliierten das erreichte, was das Appeasement mit anderen Mitteln bewerkstelligen wollte. Und noch mehr: Durch die militärische Niederlage Deutschlands wurde der Faschismus aus dem Herzen Europas verbannt. Dies ist eine Befreiungstat für die gesamte Menschheit und ein bleibender Verdienst der Siegermächte. Als ein positiver Lernschritt wurden die Vereinten Nationen gegründet und die Menschenrechte erklärt. Nüchtern müssen wir festhalten: Gewalt, nämlich die der Alliierten, verhinderte noch größere Gewalt, nämlich die weitere Ausdehnung des Faschismus und der Schoa. Der Pazifismus hat es bisher versäumt, den unbedingten Unterwerfungs- und Vernichtungswillen der damaligen Sowjetunion unter Stalin zu bedenken. Dies bereitete mir schon in der damaligen Verhandlung als Kriegsdienstverweigerer im Kreiswehrersatzamt argumentative Probleme. Dieses Versäumnis wird unter der aktuellen Aggression unter Putin, der hier strukturanalog zu Stalin handelt, deutlich.

- Der Pazifismus hat sich auch nicht genügend angestrengt, die Entstehungsbedingungen des Faschismus und Totalitarismus zu analysieren. So konnten nicht genügend pazifistische und zivilgesellschaftliche Gegenkräfte entwickelt werden. Der Pazifismus blieb auf der vormals sinnvollen gesinnungsethischen Position stehen. Die zerstörerische Dynamik des Nationalsozialismus bleib im Grunde unverstanden. Die Nazis erschienen in der inneren Repräsentation wie Aliens aus dem Weltraum oder wie die Nashörner im absurden Theaterstück von Ionesco. Die äußerliche Absetzung der Nazis war ein Ergebnis extremer Gewalt. Im Untergrund wirkte und wirkt das faschistische Politikkonzept leider weiter und outet sich im modernen, alternativen Gewand immer wieder neu.

- Dies führt zu der nüchternen Einsicht: Der Faschismus in Deutschland wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs durch die militärische Gewalt der Alliierten besiegt. Sie haben darüber hinaus auch noch die Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse angestrengt. Das heißt aber auch, dass die deutsche Gesellschaft bzw. Nation den Faschismus nicht selbst überwunden hat. So ist es nicht vollständig verwunderlich, dass er im Untergrund weiter schwelte und nun, drei Generationen nach dem Ende des Zweiten Großen Kriegs wieder aufflammt. Die Eindrücke aus dem Krieg sind in dieser Zeit verblasst und spielen vor allem bei jungen Menschen nicht mehr eine so entscheidende Rolle.

- Die Zeit, den absoluten Vernichtungswillen zu verarbeiten, war für den Pazifismus zudem denkbar knapp, zu knapp. Denn schon zum Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte sich durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, dass der traditionelle Pazifismus sich ohne(!) Reflexion der Erfahrungen mit dem Faschismus zum Atom-Pazifismus weiterentwickeln konnte. Jedem ethisch denkenden Menschen war bald klar, dass durch die Weltuntergangsperspektive durch den möglichen wechselseitigen Atomschlag nur die pazifistische Perspektive das Überleben der Menschheit sichert. Diese Überzeugung brachte in der Ökumene die großen Volkskirchen und die historischen Friedenskirchen wieder näher zueinander. Ich durfte die Verständigungen, die u.a. im Augsburger Annahof im kleinen Kreis stattfanden, teilweise begleiten und bin heute noch dankbar dafür. Diese Überzeugung sickerte mehr oder weniger erkannt auch in die deutsche Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik ein. Der Ansatz „Wandel durch Handel“ hat einen ethischen und pazifistischen Kern. Das ist gut, ja sehr gut. Aber leider ist er (s.o.) unterreflektiert und unterkomplex. Das ist verständlich auf dem Hintergrund der Entwicklungsgeschichte des Pazifismus, der einen notwendigen Entwicklungsschritt übersprungen hatte. Aber es wäre unverzeihlich und schlecht für den Frieden, wenn wir die unerledigten Hausaufgaben nicht nachholten.

Und nun? Gibt es einen konkreten Ertrag der Beobachtungen? Ja, einen vorläufigen!

- Es kommt darauf an, innen- und sozialpolitisch die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen und Sicherheit für Menschen in prekären Situationen zu fördern. Die Psychotraumatologie lehrt: Es gibt kein vernünftiges, lösungsorientiertes Denken im Zustand der Angst. Und der Frieden braucht ein Höchstmaß an Vernunft und Lösungsorientierung. Eine stabile Grundsicherung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen verhilft zur individuellen Sicherheit.

- Die Grünen als ehemals pazifistische Bewegung, die Partei wurde, handeln verantwortungsethisch sinnvoll und im Sinn des Pazifismus, wenn sie für Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten. In der real gegebenen Situation, die meines Erachtens durch einen unbedingten Unterwerfungs- und Vernichtungswillen seitens des Putin-Regimes gekennzeichnet ist, wirkt dies nach menschlichem Ermessen in globaler Perspektive gewaltmindernd. Zugleich ist dies nur eine Notlösung und ein Zwischenstadium der politischen und ethischen Positionierung.

- Denn: Die Maßnahmen und Aktionsformen des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstands müssen unbedingt weiterentwickelt werden für das faschistische Szenario, das mit unbedingtem Unterwerfungs- und Vernichtungswillen ein Land angreift.

- Frieden gibt es nicht ohne Gerechtigkeit.

- Wenn Gerechtigkeit verwirklicht wird in globalem Maßstab, werden wir erst einmal materiell ärmer werden. Hier müssen sich alle ehrlich machen.

- Und überhaupt: Wie verhalten sich Bürger- und Menschenrechte zueinander? Die Frage klingt zuerst akademisch, ist aber im globalen Maßstab voller Konfliktstoffe.

- Auf lange Sicht gesehen ist die Frage nach Frieden und Krieg die Frage nach Zugang zu materiellen Ressourcen. Die Hauptfrage dieser Welt lautet: Wie hältst du es mit dem Reichtum?

- An dieser Stelle ist Jesus von Nazareth provokativ konsequent: Gott oder Mammon?

- Ich weiche der schroffen Konsequenz dieser Frage bisher aus.

- Zugleich nehme ich wahr, dass meine eigene Kirche keine Protagonistin des Pazifismus war. Im Kaiserreich und danach war sie überwiegend deutschnational und begeisterte sich für das Militär. Die „Deutschen Christen“ waren offen nationalsozialistisch. Die „Bekennende Kirche“ war zwar gegen das Führerprinzip in der Kirche und formulierte in der „Barmer Theologischen Erklärung“ einen anti-totalitaristischen Impuls, aber zur Demokratie, zu den Menschenrechten und zur Friedensverantwortung fand sie erst nach dem Kriegsende in den EKD-Denkschriften einen positiven Bezug. Hoffnung gibt, dass meine Kirche spät aber pointiert lernfähig ist. Möge es bei Kyrill, dem Patriarchen von Moskau, und anderen orthodoxen Würdenträgern ebenso sein.

- Vielleicht haben die Armutsbewegungen der Kirchengeschichte spirituelle und ethische Ressourcen, die wir nun brauchen.

- Ich merke nämlich: Eine tragende Gemeinschaft wäre gut, um weniger auf materielle Ressourcen angewiesen zu sein.

- Wir haben hier die verdammte Pflicht. Es ruft der kategorische Imperativ der Hoffnung auf Frieden. Jesu Ruf ist auch dabei. Wir sind es unseren Kindern und Kindeskindern schuldig, die Welt und die Weltgemeinschaft friedvoll zu gestalten. Ich will es für meine Enkel tun.

Frank Witzel, Bahnhof-K, Bahnhofstraße 6a, 97241 Bergtheim

Pfarrer für Kirche an anderen Orten und Springerdienste im Dekanat Würzburg,

Traumatherapeut

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Frank Witzel

Evangelischer Pfarrer, Traumatherapeut und Biker in der evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas in Augsburg.