Lebenszeichen von Frank am 17.10.2022

Frank Witzel
6 min readOct 17, 2022
Angst ist das Hauptproblem unseres Lebens. Religiöse Angst und die Furcht vor aktuellen, realen Dingen stärken sich gegenseitig. Außer: Wir verstehen endlich, was Gnade ist.

Ich bereite mich allmählich auf das Reformationsfest vor. Eine Predigt wurde schon fertig. Ich mag sie. Sie bedeutet mir viel und spricht zu mir, so als ob sie von außen zu mir käme.

Predigt zu Halloween, Reformationstag, Allerheiligen und Allerseelen

Liebe Gemeinde,

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

„Halloween“ … hört sich seltsam an. Das sprachliche Rätsel löst sich, wenn man an die Aussprache im Alltag denkt. Da wird viel verschluckt und abgekürzt. Das „Jawosammadenn“ von „All Hallows Eve“ heißt „Halloween“. „All Hallows Eve“ bedeutet das Gleiche wie „All Saints Eve“, auf Deutsch: „Der Vorabend von Allerheiligen“. … so ähnlich wie beim „Heiligen Abend“ am „Christfest“, genannt „Weihnachten“.

Bei Halloween denke ich an Kürbisse. Ich mag Kürbissuppe, besonders mit Ingwer, mit leichter Chili-Note und steirischem Kürbiskernöl. Letzteres hatte ich im Kleinwalsertal das erste Mal entdeckt.

Es gab eine Zeit, da dachte ich bei Kürbissen nur ans Essen. Das war vor 1990.

Ich war also 28 Jahre alt oder jünger als mir Kürbisse mit Kerzen und eingeschnitten Grusel-Gesichtern nur in den Comic-Zeichnungen der Peanuts mit Charly Brown begegnet sind. Diese mitunter tiefsinnigen Humor-Kurzgeschichten im Comicstil kamen aus den Vereinigten Staaten zu uns. Halloween war also irgendwie amerikanisch und wurde von mir nur am Rande wahrgenommen.

Irische Migranten verbanden Kürbisse mit Gruseln und Lichtern. Irische Einwanderer in Nordamerika erzählten sich irische Legenden von einem Mann, der den Teufel austrickste, aber weder im Himmel noch in der Hölle aufgenommen wurde und mit einem glühendem Kohlestück in einer Rübe auf die Wanderschaft zwischen den Welten ging. Die Legende hat eine innere Nähe zu einem vorchristlichen, irisch-keltischen Fest am 31.10., bei dem das Vieh wieder in die Winterställe geführt wird und auch die Seelen der Toten ein Heim suchen.

1991 kam der Entschluss, keinen Fasching feiern zu wollen, während der Golfkrieg im Irak tobte. Da aber das Feiern auch immer etwas mit Geld und Verdienstmöglichkeiten zu tun hat, bewarb Industrie und Handel für den ausgefallenen Fasching Halloween. Seither gehen gruselig verkleidete Kinder am 31.10. umher, ähnlich wie beim Fasching, und fordern „Süßes oder Saures“, um Spaß zu haben.

Halloween wurde immer populärer und konkurriert nun in der öffentlichen Aufmerksamkeit mit dem Reformationsfest und Allerheiligen samt Allerseelen.

Die kirchliche Presse, zum Beispiel das „Bayerische Evangelische Sonntagsblatt“, versuchte entgegenzusteuern.

Viel schroffer formulierten amerikanische evangelikale Christen, dass Halloween eine Nähe zum Okkultismus und Satanismus habe, der bei Halloween in der Religion der irischen Kelten wurzele. Angeblich würde dergleichen der Bibel widersprechen.

Wir sehen dies differenzierter und merken dabei: Unsere Seele denkt nicht mit Begriffen. Unsere Seele denkt mit Bildern, mit Festen und mit Symbolen.

Es ist gut, wenn wir Denken und seelisches Empfinden miteinander verbinden. So können wir uns selbst, Gottes Gnade und die Welt besser verstehen. Wer Gottes Gnade, sich selbst und die Welt gedanklich und seelisch zusammenbringen kann, wird getröstet, froh, kräftig und frei. Auf dieser Grundlage kann man Gutes sich selbst, den anderen und der Welt zu tun.

Wie in einem bunten Kaleidoskop nehmen wir uns wahr. Wir sehen darin

- uns selbst,

- das Leben, wie es ist, mit allem Schönen und mit aller Angst,

- unsere seelischen Regungen,

- Allerseelen und Allerheiligen in der katholischen Tradition,

- Halloween als gruseliger Spaß für Kinder und Erwachsene,

- die Vorstellung, dass Tote nicht richtig tot sind, sondern etwas tun, das auch irgendwie in die Welt der Lebenden hineinreich und umgekehrt,

- die Botschaft der Reformation, dass Gottes geschenkte Gnade größer, reicher und tiefer ist als alles.

Letztlich ist in dem Kaleidoskop des Lebens auch die Frage dabei: Wie verhalten wir uns selbst in ebendiesem Kaleidoskop des Lebens?

Der Reigen der kirchlichen Feste Ende Oktober und Anfang November hilft uns, uns seelisch zu ordnen und unser Leben heilsam zu orientieren.

Wir beginnen bei Allerseelen: Nicht nur Katholiken denken an ihre Verstorbenen. Evangelische und unkirchliche Menschen machen dies auch — ganz automatisch. Unsere Seele will irgendwie den Verstorbenen Gutes tun. Sie erinnert sich auch an Gutes, das uns mit den Verstorbenen verbindet. Trauer und Dankbarkeit geben sich hier die Hand. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, dass wir Gräber pflegen. Sie sollen schön sein.

Zugleich denken wir dann auch daran, dass wir selbst einmal sterben müssen und dass der Tod überall im Leben schon um die Ecke schaut. Das lässt uns innerlich erschaudern, macht Angst und Grusel.

In der katholischen Tradition wurde die Möglichkeit geboten, durch Geldzahlungen die Leidenszeit der Verstorbenen im Fegefeuer, einem Ort der seelischen Reinigung, den es in vielen Religionen gibt, zu verkürzen. In der katholischen Lehre, sind es die Heiligen, die einen himmlischen Schatz der Gnade angespart haben, den man per Ablasszahlung anzapfen kann, um Verstorbenen Gutes zu tun. Allerseelen, das Fest der Verbundenheit von Lebenden und Toten, und das Fest Allerheiligen gehören also in katholischer Sichtweise eng zusammen.

Evangelische lehnen die Vorstellung des Fegefeuers und glauben zugleich, dass Gott allein die Quelle der Gnade ist.

Der gemeinsame Nenner in der ökumenischen Begegnung ist die Gewissheit, dass Gott uns Menschen Gutes tut — hier und dort, in der Welt der Lebenden und danach, in Zeit und Ewigkeit. Wie dies genau vorzustellen ist, ist dabei unwichtig. Wichtig ist allein, dass Gottes Gnade universal und ewig ist.

In diesen Trost hinein kommt zusätzlich die Botschaft des Reformationstags: Die Gnade ist ein reines Geschenk. Darum soll, ja muss, alles vermieden werden, was den Eindruck erweckt, dass man aus der geschenkten Gnade ein Geschäft oder ein Abhängigkeitsverhältnis machen könnte.

Geschenkte Gnade, Trost und Lebensfreude, Liebe und Freiheit gehen immer und ausnahmslos zusammen.

Zugleich bleiben wir auch ehrlich. Trotz aller Freude über all das Gute, nämlich

- geschenkte Vergebung,

- Gnade,

- Versöhnung mit Gott, sich selbst und den anderen,

- ewiges Leben,

- Gemeinschaft mit Gott,

- ewige Liebe und Freude,

- trotz allem Frieden mit Gott

geben wir zu: „Ja, wir haben Angst.“

Weil wir trotz aller Gnade Angst vor dem Tod haben und Gefühle der Sinnlosigkeit, der Einsamkeit und Verzweiflung kennen, leiden wir auf einer seelischen und spirituellen Ebene.

Es gehört zu unserem Menschsein, dass wir Fragen über das rein Materielle hinaus stellen. Wir „transzendieren“. Das ist manchmal schön und erhebend, manchmal macht es aber auch Angst.

Zugleich bekennen wir auch freimütig, dass wir auch Angst vor dem ganz praktischen und materiellen Leben haben. Die Krisen im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben bedrücken uns schwer. Wir sorgen uns um die Zukunft, besonders wenn wir an unsere Kinder und Kindeskinder denken. Wir leiden mit den Elenden, Hungernden und Gewaltbedrängten auf der ganzen Welt.

Spirituelle Ängste und praktische Ängste verstärken sich gegenseitig.

Was machen wir damit? Wir gehen hinein in die Botschaft der Feste!

Wir gehen zuerst in die Botschaft des Reformationsfestes: Du bist durch die geschenkte Gnade geborgen in Zeit und Ewigkeit. Diese Gnade gilt für immer und für alle — auch für die, die nicht oder noch nicht glauben. Das tröstet und heilt, gibt Kraft auch für die Unvollendetheiten des inneren und äußeren Lebens im Hier und Jetzt.

Mit dieser Kraft gehen wir nach draußen und machen uns einen Spaß mit allem, was Angst machen könnte.

Danach gehen wir in die Botschaft von Halloween. Wir verwandeln dabei den Horror in süße Schaurigkeit. Wir verwandeln die Angst in Humor. Wir bringen uns zusammen als einsame Wanderer und Wanderinnen zu gemeinsamen Spaß.

Halloween ist auf dem Hintergrund von Allerseelen, Allerheiligen und dem Reformationsfest eine weise Lebenseinstellung, ein getröstetes Sein im Alltag, weil es zwei Dinge verbindet: Die ehrliche Anerkennung der Angst und die angenommene Botschaft der radikalen Gnade.

Aus diesen beiden entgegengesetzten Elementen entsteht Feiern, Spaß, Humor und die gruselig-froh gepflegte Gemeinschaft. Auch die Selbstwirksamkeit ist mit dabei und führt uns aus Ohnmachtserfahrungen und Ohnmachtshaltungen heraus.

Das alles ist gut, heilsam und heilig. Dabei sind wir nicht perfekt aber heilig. Uns, jedenfalls mir selbst, gruselt es vor mir selber oft genug. Darüber darf man auch schmunzeln, lachen und Witze machen. Gut ist jeder Humor, bei dem auch die Betroffenen mitlachen können.

Und mit diesen umfassenden Festerfahrungen gehen wir dann wieder in den Alltag und pflegen beherzt den Humor, die Gemeinschaft, die Kreativität auch in den extrem schwierigen Zeiten. Humor und Spaß sind Zeichen der Erlösung in der unerlösten Welt.

Humor impft die Welt mit Gutem. Uns auch! Dann werden wir, wenn es darauf ankommt, auch fähig zu mutigen, frohen, beherzten und guten Taten der Liebe, der Verantwortung und der Bewahrung.

Das trotzige Trotzdem ist heilig. Halloween passt dazu.

Gesegnetes Gruseln und Lachen! Gesegnetes Gutes-Tun trotz alledem!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

--

--

Frank Witzel

Evangelischer Pfarrer, Traumatherapeut und Biker in der evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas in Augsburg.