Lebenszeichen von Frank am 13.6.2022

Frank Witzel
5 min readJun 13, 2022
Vor einem knappen Jahr an meinem Geburtstag bei Fridays for Future in Sonthofen

Liebe Freunde und Verwandte und alle, die schon lange nichts mehr von mir gehört haben!

Heute habe ich einen richtigen freien Tag. Kein Dienst. Kein Termin. Auch privat war nichts zu erledigen, das termingebunden heute hätte stattfinden müssen. Gibt es sowas auch noch?!

Als es mir heute Morgen gegen 7.00 Uhr klar wurde, dass dies ein besonderer Tag werden würde, war ich etwas durcheinander. Was mache ich mit der geschenkten Zeit? Eine Motorradtour? Jemanden kurzfristig besuchen? Keller aufräumen? …

Oder vielleicht doch arbeiten und alles schon erledigen, was in den kommenden Tagen auf mich warten wird?

Dann wurde ich schlagartig müde und antriebslos. Tatsächlich bin ich daraufhin noch einmal eingeschlafen. Eineinhalb Stunden später erfolgte der erneute Anlauf in den Tag. Ich begann die Zettel und Notizen, die in der Wohnung herumlagen anzuschauen. Lauter Impulse, was ich schon immer mal machen wollte!

- www.goldeimer.de im Internet anschauen! Trockentoiletten braucht die Welt! Gute Idee!

- Den Rennradreifen, den ich abmontiert hatte zur Reparatur suchen! Immer noch nicht gefunden! Irgendwie gespenstisch! Ich habe überhaupt keine Erinnerung, wo ich ihn hingelegt haben könnte, als ich mein Rennrad reparieren wollte.

- Die Bilder meiner Enkel habe ich aufgehängt. Die ersten Kunstwerke ihres Lebens erfreuen mein Herz und zieren mein Zimmer.

- Dann habe ich begonnen, Bilder von Oleg Aizman, ein jüdischer Künstler und Freund aus Augsburg, für die nächste Ausstellung („Versöhnung“) zu rahmen. Das war privat und dienstlich zugleich. Ich freute mich, dass es klappte.

- Den Esstisch aus Holz habe ich geputzt und neu eingeölt.

Dann habe ich doch einige dienstliche Dinge erledigt, war aber ganz entspannt dabei.

Bei allem habe ich über mein derzeitiges Leben nachgedacht. Mir kamen alle FreundINNeN und Bekannte in den Sinn, die in den letzten Wochen und Monaten Kontakt mit mir aufnehmen wollten, mich aber nicht erreicht haben oder ich nicht geantwortet habe, weil immer etwas dringenderes auf der Agenda war. Zumindest kam es mir so vor, dass es dringender war. Und die großen Themen waren auch dabei. Ich finde, sie sollten bearbeitet werden … richtig mit Gedankenkraft und so. Dazu hatte ich heute Zeit. Ich möchte, wenn ihr auch wollt, euch daran teilhaben lassen:

- Ich bin sehr traurig, dass unsere, „meine“ Kirche an Schwindsucht leidet, den Bach runtergeht, im Sinkflug ist. Keine gute Idee wird sie retten. Sie ist zwar eine Ideenproduzentin, aber das hilft nicht (mehr). Es geht trotzdem abwärts. Ich merke, dass ich eine gehörige Portion meiner beruflichen Identität daraus gewonnen habe, in den vergangenen Jahren und (mittlerweile) Jahrzehnten, mich dem Kirchenschwund entgegenzustemmen. Ich habe dabei auch Sternstunden erlebt und richtige Erfolge verbuchen können. Aber es reicht nicht. Meine Kirche hat mir geholfen, die Theologie zu lieben, meine Gaben zu entdecken, die Gnade zu verstehen und Traumatherapeut zu werden. Ich will nicht, dass sie an Auszehrung stirbt. Nach Lage der Dinge, wird sie das aber in ihrer volkskirchlichen Gestalt. Die Organisation in den oberen Rängen wird sich retten. Die Probleme werden zugleich an die Basis durchgereicht. Und dort fallen sie zu Boden. Aber auch die sogenannte Basis will wenig retten. Sie könnte mit ihren Orten und Gebäuden an den Markt gehen und wenigstens möglichst viel Geld verdienen, um die dezentrale Struktur aufrecht zu erhalten, wenn die Kirchensteuereinnahmen dies nicht mehr leisten. Es gibt Beispiele, wo es gewollt wird und gelingt, alternative Einnahmen zu erwirtschaften. Es sind aber extreme Ausnahmen. Lange Zeit tröstete ich mich damit, dass der Inhalt der Reformation in Form der Menschenrechte, der gerechten Zivilgesellschaft und des Friedenswillen lokal und global in der säkularen Welt weiterlebt. Doch davon bin ich seit dem globalen Rückgang des liberalen Politikmodells nicht mehr überzeugt. Ich hoffte auch, dass das evangelische Erbe im sozial stärkeren Katholizismus weiterwirkt. Doch seit den Missbrauchsskandalen teilen wir in ökumenischer Eintracht die Erfahrung des faktischen Relevanzverlusts — wohl auch zu Recht. Bei aller Öffentlichkeit des Themas wundert es mich, dass nicht endlich jemand mal deutlich sagt, dass es bei sexualisierter Gewalt nicht um Lust und Sex geht sondern um Kontrolle und Macht. So ist jedenfalls mein psychotraumatologischer Blick auf diese furchtbaren Dinge.

- Eine ähnliche Traurigkeit befällt mich im Angesicht der Ukraine-Kriegsberichterstattung, die täglich in Presse, TV und Internet zu verfolgen ist. Ich gehöre nicht zu denen, die in unserer Kirche sagen, wir bräuchten eine neue Friedensethik — so ähnlich, wie die Politik meint, sie bräuchte eine neue Ost- und Friedenspolitik. Ich meine vielmehr, dass alles schon ethisch durchdacht und auch durchlitten ist. Es sind genau die gleichen ethischen Grundfragen, wie sie auch bei meinem Prozess zur Kriegsdienstverweigerung virulent waren. Als wäre keine Zeit vergangen! Gewalt und Imperialismus im Horizont des atomaren Overkills! Das Problem ist nur: in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hat keiner mehr daran gedacht, dass man sich friedensethisch praktisch auf den Ernstfall der Gewalteskalation vorbereiten muss. Jetzt ist es zu spät. Jetzt denke ich auch, dass konventionelle Waffenlieferungen an die Ukraine besser sind als das Land der Aggression auszuliefern. Zugleich glaube ich, dass die weltweite Ökumene der Kirchen endlich klar und deutlich sagen und bezeugen muss, dass Nationalität im Horizont des Glaubens eine absolute Nebensächlichkeit ist und sein muss.

- Bis vor Kurzem war ich noch der begründeten Meinung, dass es mit der Welt immer besser wird. Der israelische Philosoph Yuval Harari und der niederländische Historiker und Anthropologe Rutger Bregman lieferten mir die Argumente dazu. Ich verschenkte auch gern Bücher der beiden. Die Corona-Krise interpretierte ich da noch als Lernfeld für kollektives Handeln im globalen Maßstab, um die größeren Probleme, nämlich Hunger, Armut, Ausbeutung und Klima, angehen und lösen zu können, ohne in die „Alleme(i)nde-Falle“ zu tappen. Der Ukraine-Krieg frisst jetzt die Zeit und die Ressourcen auf, die wir gebraucht hätten, um noch vor den „Kipp-Punkten“ reagieren zu können.

- Nächste Woche fahre ich zu meinen Enkeln. Ich werde sie taufen. Darauf freue ich mich ungemein. Zugleich spüre ich eine Verpflichtung, Gutes für sie und für die Zukunft aller Kinder zu tun.

- Alles gipfelt in der Frage: Was ist meine Aufgabe jetzt — als Pfarrer und Großvater. Ich glaube nicht, dass es so weitergehen kann. Gestern stellte ich diese Frage einer Freundin. Sie antwortete: „Einfach da sein.“ Das bewirkte auch eine gewisse Resonanz in mir. Aber ich glaube, das ist trotzdem nicht alles …

- Vor 9 Jahren, also 2013, hörte ich im Kleinwalsertal kurz nach meinem dortigen Dienstbeginn einen Vortrag zur ökologischen Krise, den die ansässige Bank ( Ja, die Bank! J ) veranstaltete. Der Vortragende meinte, dass Beste für die Natur wäre, einfach zu Hause zu bleiben und möglichst wenig zu tun — schlafen zum Beispiel.

- Mein lang-lang-jähriger, sehr guter, treuer Freund Joachim hilft mir zurzeit, eine Dreifach-Garage in Bergtheim zu einem Seminar- und Wohnhaus umzubauen. Ich könnte mich dorthin zurückziehen und nichts mehr tun. Vielleicht. „Geht nicht!“, meint Joachim, „du brauchst noch mindestens vier Jahre dein Gehalt, um die Kosten tragen zu können.“ Stimmt auch wieder. Auf jeden Fall will ich dort für mich und für andere einen guten Ort schaffen, an dem sich Menschen treffen können, die mit einem „guten Mindset“ (O-Ton von meinem Sohn Jan) sich mit guten Dingen beschäftigen. Eben ein Seminarhaus u.a. für Traumatherapie und -pädagogik! Ich freue mich, dass hier konstruktive Zukunfts- und Hoffnungselemente ganz praktisch vorkommen. Und der alte Name aus vergangenen Lebensphasen soll auch wieder eine Rolle spielen: „Bahnhof-K“.

Und jetzt bitte ich euch, dass ihr alle mich nicht vergesst, auch wenn ich wieder in den Alltag und die Dichte der Aktivitäten eintauche. Ich denke an euch. Ihr habt einen Platz in meinem Herzen. Seid und bleibt behütet!

Euer Frank

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Frank Witzel

Evangelischer Pfarrer, Traumatherapeut und Biker in der evangelischen Kirchengemeinde St. Thomas in Augsburg.